Zocken, Coden, Pornokompetenz?
Geschlechterreflektierte Medienarbeit mit Jungen*
Erstveröffentlichung am 3. März 2021 auf www.medien-weiter-bildung.de
Von Vincent Beringhoff
Was machen Jungen* eigentlich so in und mit digitalen Medien? Darüber geben die JIM- und KIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest verlässlich Aufschluss; seit Jahren wird dort das Mediennutzungsverhalten Kinder und Jugendlicher untersucht. Dabei werden auch geschlechtsspezifische Unterschiede benannt. Hier eine Auswahl:
Jungen* zocken mehr als Mädchen* und verfügen (daher) auch eher über stationäre PCs; Mädchen* dagegen verbringen mehr Zeit mit Kommunikation. In Sachen Informationssuche haben Jungen* die Nase vorn. Jungs* geben beim Spielen öfter „aus Versehen“ Geld aus als Mädchen*. Mehr Mädchen* als Jungen* geben an, schonmal Opfer von Mobbing oder Beleidigungen im Netz geworden zu sein.
Und, was schätzt ihr: Wer verbringt wohl mehr Zeit online?
Richtig – die Mädchen*!
So zumindest das Ergebnis der JIM-Studie im Corona-Jahr 2020. Gut, auch nur 10 Minuten mehr (265 Minuten/Tag vs. 255 Minuten/Tag). Und: Grundlage der Zahlen sind die Selbstauskünfte (ahaa!) der befragten Jugendlichen (zwölf bis 19 Jahre).
Während harte Zahlen und Fakten zur Mediennutzung Jugendlicher für uns als (medien-) pädagogische Fachkräfte wichtig sind und uns dabei helfen (können), Trends zu erkennen und mögliche relevante pädagogische Bedarfe und Angebote zu formulieren, geben sie uns keine direkten Antworten darauf, was die konkreten Gruppen, mit denen wir arbeiten, beschäftigt, welche Fragen oder Unterstützungsbedürfnisse innerhalb der jeweiligen Gruppe existieren. Insbesondere für den Bereich geschlechterreflektierter Pädagogik, in diesem Fall: geschlechterreflektierter Jungenarbeit, möchte ich dafür plädieren, (vermeintlich) geschlechterspezifische Vorlieben und Neigungen zwar im Hinterkopf zu behalten, sie aber nicht zum alleinigen Ausgangpunkt pädagogischer Konzepte zu geschlechterreflektierter Medienarbeit mit Jungen* zu machen.
Im folgenden Artikel reiße ich an, was ich unter geschlechterreflektierter Jungenarbeit verstehe und wie geschlechterreflektierte Medienarbeit mit Jungen* konkret aussehen könnte. Der Text wird ergänzt um Praxismethoden meines Kollegen der LAG Jungenarbeit in Baden-Württemberg, Benjamin Götz.
Geschlechterreflektiert? Jungenarbeit?
Während Mädchen(*)arbeit inzwischen vielen ein Begriff ist, scheint Jungenarbeit als geschlechterpädagogischer Ansatz weniger bekannt. Definitionen und Verständnisse von Jungenarbeit gibt es viele; die Diskussionsfragen, die sich hinter der harmlosen Frage „Was ist eigentlich Jungenarbeit“? verbergen, werden in folgendem Video kurz angerissen:
https://youtu.be/JlN3-8Wxd4U
Wichtig: Jungenarbeit definiert sich also nicht (allein) durch die Arbeit einer pädagogischen Fachkraft jedweden Geschlechts mit Jungen*, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass auf Seiten der Fachkraft eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher und persönlicher Bedeutung von Geschlecht vorangegangen ist und die Arbeit als Analysefolie begleitet. Das heißt: Ein Film- oder Social-Media-Projekt mit einer Gruppe Jungen* ist nicht „automatisch“ Jungen(Medien)Arbeit.
Warum Jungen(Medien)Arbeit?
Gerade im Kontext von Social Media gibt es eine vergleichsweise hohe Anzahl von medienpädagogischen Projekten, die sich an Mädchen* richten und die transportierten, häufig rückwärtsgewandten Geschlechterbilder und Weiblichkeitsanforderungen in den Blick nehmen. Studien wie die MaLisaStudie und einzelne Veröffentlichungen in psychologischen Fachzeitschriften legen aber ebenso nahe, dass etwa Darstellungen von Männlichkeit(en) Folgen für Jungen* und junge Männer* und deren Körperwahrnehmung haben [hier weiterlesen: „Social Media macht was mit Jungs*“].
Über dieses Beispiel hinaus bilden digitale Medien eine Projektionsfläche für Vorstellungen von Männlichkeit; es geht nicht mehr nur um die klassische „Darstellung“ von Männlichkeitsbildern, sondern auch darum, wie Jungen* in Interaktion mit ihren Peers Männlichkeit(en) verhandeln und Resonanz auf ihre individuelle Verkörperung von Männlichkeit erfahren. Kurz: Digitale Medien spielen längst eine große Rolle in der Identitätsarbeit Jugendlicher.
Dem scheinen bislang eher wenige Angebote (und theoretisch fundierte Konzepte) geschlechterreflektierter Medienarbeit mit Jungen* gegenüberzustehen. Bislang fokussieren viele Beratungs- und Fortbildungsangebote etwa für pädagogische Fachkräfte auf Fragen des Jugendmedienschutzes, wie beispielsweise Fragen von Medienabhängigkeit und Pornografienutzung (und in manchen Fällen gleich beides zusammen). Ohne Zweifel sind Risiken von digitalen Medien in den Blick zu nehmen; eine Stärke geschlechterreflektierter Jungenarbeit läge aber eher darin, nicht zu bewerten, welcher Medienumgang von Jungen* angemessen ist – sondern ihre Identitätsarbeit zunächst unterstützend zu flankieren und gemeinsam mit ihnen geschlechterbezogen zu reflektieren, mit welchen Entwicklungs- und -bewältigungsaufgaben Jungen* unter digitalen Vorzeichen konfrontiert sind. [1]
Wie JungenMedienArbeit?
Ein wichtiger Bezugspunkt geschlechterreflektierter Jungenarbeit ist der (De-)Konstruktivismus: Geschlecht ist demnach nichts „Fixes“, sondern etwas, das über gesellschaftliche Praktiken („doing gender“) immer wieder (re-)produziert wird. Wir sprechen also über Normierungsprozesse, die uns sagen, wie Jungen*/Männer* in unserer Gesellschaft zu sein haben. An diesen Prozessen sind wir selbstverständlich beteiligt, wenn wir medienpädagogisch mit Jungen* arbeiten – und das gilt es zu reflektieren.
Eine weit verbreitete, geschlechterstereotype Zuschreibung mit Blick auf Medien ist bis heute „Technikkompetenz“: Jungen* (und Männern) wird nahegelegt, an Technik interessiert und im Umgang mit Technik „fit“ zu sein [2]. Technisches Know-how gilt als „männlich“ und kann daher mit einem Statusgewinn einhergehen. Andersherum können Jungen*, die nicht an Technik interessiert sind, als „unmännlich“ abgewertet werden.
Dass Jungen* an Technik interessiert sind, mag auf einige – oder sogar viele – Jungen* zutreffen; ebenso wie es auf einige – oder sogar viele – Jungen* zutreffen kann, dass sie sich für Fußball interessieren. Medienarbeit mit Jungen* darf aber – wie Jungenarbeit – nicht darin verharren, ausschließlich vermeintlich „jungentypische“ Angebote zu machen, sondern muss auch den Blick auf die Vielfalt innerhalb von Jungengruppen richten und ihnen Angebote machen, die ein Hinterfragen von Geschlechternormen und -hierarchien ermöglichen. Ich möchte gern vorschlagen, für die JungenMedienArbeit auf das Konzept von Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung von Geschlecht zurückzugreifen (vgl. Debus, 2013) und es zu nutzen, um Medienprojektvorhaben mit Blick auf ihre Geschlechterdimension zu prüfen.
Unter Rückbezug auf diesen Ansatz können innerhalb eines Projektes je nach Zielsetzung sowohl Fragen von Vielfalt innerhalb einer Jungengruppe aufgegriffen werden, wobei „Geschlecht“ als Kategorie eher in den Hintergrund tritt; ebenso können bestehende gesellschaftliche Ungleichverhältnisse aufgegriffen werden, ohne im Endergebnis die Bedeutung von Geschlechterdifferenzen überzubetonen und die Kategorie „Geschlecht“ als Differenzmerkmal weiter festzuschreiben.
Die Strategien Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung kommen in der Regel nicht voneinander losgelöst vor (siehe Video: https://youtu.be/PtZOEaoS58o):
Diesem Ansatz folgend, stelle ich mir zunächst die Frage, worum es in einem bestimmten Projektvorhaben geht: Sollen A) gezielt Geschlechterverhältnisse oder Geschlechterbilder in den Blick genommen werden? Oder geht es B) darum, erstmal individuelle Interessen oder Kompetenzen zu fördern, ohne Geschlecht direkt in den Fokus zu rücken?
Beispiel für A:
Da ich Geschlechterbilder gezielt in den Blick nehme, arbeite ich auf jeden Fall dramatisierend. Beispiel: Wie werden Frauen* und Männer* auf Instagram dargestellt?
Nach einer Ergebnissammlung sollte zwingend ein entdramatisierender Blick folgen: Welche Gemeinsamkeiten gibt es in den Darstellungen von Frauen* und Männern*? Welche anderen Identitätskategorien neben Geschlecht könnte man auch noch in den Blick nehmen (z.B. Herkunft, sozio-ökonomischer Hintergrund o.ä.). Ebenso könnte der Blick auf das Individuum gelenkt werden: In einer idealen Welt, in der es keinen Druck von außen gäbe: Wie würdest du dich gern auf Instagram darstellen und warum?
Diese Bilderstrecke ist ein schönes Beispiel für die medienpädagogische Auseinandersetzung mit Männlichkeit:
„Was ist Männlichkeit“?
Beispiel für B:
Hier kann nicht-dramatisierend gestartet werden (Geschlecht wird also nicht direkt zum Thema gemacht), indem ich zum Beispiel thematisch arbeite: Wie stellst du dir deine Zukunft vor (Freundschaft, Liebe, Berufsplanung etc.)? Wird klar, dass die Teilnehmer* Geschlecht selbst in den Fokus rücken oder gewisse stereotype Vorstellungen zum Ausdruck bringen, z.B. zu vermeintlichen Männer- und Frauenberufen, habe ich als Fachkraft die Wahl, ob ich dies aufgreife und direkt entdramatisiere oder ob ich das Thema dramatisierend vertiefe und im Anschluss entdramatisiere.
Zur Verdeutlichung des Ansatzes hilft ein Blick in dieses Flussdiagramm von Katharina Debus.
Im Rahmen dieses Medienprojektes mit Jungen*, bei dem mit Ozobots eine Geschichte erzählt wurde, wurde nicht-dramatisierend gestartet und nur bei Bedarf in die Dramatisierung und Entdramatisierung gewechselt.
Ergebnisvideo: https://youtu.be/aOg8UGy4Juc
JungenMedienArbeit – in einem geschlechterreflektierten Verständnis – ist also nicht „nur“ pädagogische Arbeit mit Jungen* und Medien entlang vermeintlich „jungentypischer“ Interessen.
Keine Mario-Kart-Wettbewerbe und FIFA-Turniere mehr?
Heißt das jetzt, dass ich mit Jungen* keine eigenen Mini-Games mehr programmieren, kein FIFA zocken oder Mario-Kart-Wettbewerbe veranstalten soll?
Nein, darauf will ich ausdrücklich nicht hinaus. Ein Mario-Kart-Wettbewerb kann durchaus geschlechterreflektierte Jungenarbeit sein, ebenso wie das Programmieren eines eigenen Mini-Games oder die Entwicklung eines eigenen Avatars (s. u. „Praxismethoden“). Wichtig ist, dass ich mich als Fachkraft, mein Welt- bzw. Geschlechterverständnis und mein medienpädagogisches Anliegen mit Blick auf eine geschlechtliche Dimension reflektiere und mich frage: Warum führe ich dieses Projekt mit diesen Methoden durch? Wenn eine Jungen*gruppe ein Mario Kart- oder FIFA-Turnier organisiert, kann das – im Sinne einer nicht-dramatisierenden Strategie – hervorragend dazu beitragen, Sozialkompetenzen bei Jungen* zu fördern. Warum nicht mal ein Catering-Team für das Turnier ins Leben rufen, das alle Teilnehmer* mit selbstgemachten Snacks versorgt?
Ebenso ist es in der Jungenarbeit eine gängige wie legitime Strategie, ein Wettbewerbs-Element in eine Methode einzubauen, um ein eher „unsexy“ Thema attraktiver (für Jungen*) zu machen; eine so simple wie beliebte Methode ist „Mannopoly“ oder „Der große Preis“ im Jeopardy-Format mit Fragen zum Beispiel zu Sexualität, Liebe, Beziehung o.ä. [3]
Auf mediengestützte oder medienpädagogische Methoden übertragen, könnte man also…
• ein digitales Quiz oder eine Rallye zu einem Thema erstellen lassen, das für die Jungen*gruppe gerade relevant ist.
• ein Mini-Game unter einem bestimmten Motto erstellen lassen und es anschließend reflektieren.
• programmierte Roboter als Protagonisten für ein Storytelling nutzen (s. Beispiel weiter unten)
• Ein Machinima [4] in einem beliebten „Game“ drehen etc.
In der Arbeit mit Jungen* gehe ich grundsätzlich davon aus, dass jede Jungen*gruppe und jeder individuelle Junge* vielfältig ist – in Bezug auf Interessen, familiären Background, geschlechtliche(n) und sexuelle(n) Ausdruck und Identität. „Vielfalt“ schließt für mich dabei das „ganze Spektrum“ ein – ich gehe davon aus, dass ich hetero und schwule, bi- oder pansexuelle Jungen* in meiner Gruppe haben kann, ebenso wie cis und trans Jungen*. Alle Jungen* profitieren davon, wenn es uns gelingt, in und mit digitalen Medien Räume zu schaffen, in denen Jungen* sich jenseits von engen Männlichkeitsnormen ausprobieren und erleben können.
JungenMedienArbeit in der Praxis
Vier medienpraktische Methoden, die Männlichkeit(en) explizit thematisieren, hat Benjamin Götz, Jungenarbeiter und Medienpädagoge bei der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit in Baden-Württemberg, für „Junge*Junge – das Magazin der LAG Jungenarbeit NRW“ in der Ausgabe „Fokus: Jungs* und digitale Medien“ aufgeschrieben. Sie können gern nach Belieben ausprobiert und variiert werden.
Den Ruf nach „Methoden für Jungs*“ kenne ich aus der Jungenarbeit nur zu gut. Allerdings gibt es da kein „one size fits all“ – und Methoden allein machen noch keine geschlechterreflektierte JungenMedienArbeit. Der oben beschriebene Ansatz von Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung kann zumindest dabei helfen, sich über die Ziele seines Vorhabens klar zu werden – und entsprechend passende, bereits bekannte Methoden anzuwenden, zu modifizieren, oder auch neue Methoden zu entwickeln.
Mit Blick auf die Zukunft würde ich mich freuen, wenn pädagogische Fachkräfte Medienpädagogik und geschlechterreflektierte Pädagogik stärker als bisher zusammen dächten – und mit Blick auf die Zukunft mehr Konzepte für die geschlechterreflektierte Medienarbeit mit Jungen* und Kindern und Jugendlicher anderer Geschlechter entstünden.
Vincent Beringhoff (Journalist* & Medienpädagoge*) ist Referent* der LAG Jungenarbeit NRW e.V. für den Bereich Digitale Bildungsangebote im Projekt „digit! jungenarbeit DIGITAL“.