Einblick in unsere "Irgendwie Hier!"-Praxisprojekte
Überall sein können, nicht überall sein dürfen: Junge Männer* reden
Träume, Pläne, Wünsche, Ängste, Ideen, Sehnsüchte – bei BorderlessTV reden die Interviewpartner über das alles, sicher und frei. Im Studio herrscht eine besondere Atmosphäre: Mitten in der Großstadt gibt es Ruhe und Vertrauen – und gute Gespräche.
DORTMUND. "Es ist schon die achte Sendung, die wir jetzt drehen", erklärt Alaa Nassif Makki, Projektleiterin bei "Live und ohne Grenzen" – dem Kölner Projekt im Rahmen von "Irgendwie hier! 2020". Natürlich nicht alle heute, denn allein eine Sendung bedeutet professionelle Vorbereitung und aufmerksame Gespräche, bevor das Licht über der Tür überhaupt anzeigt, dass eine Aufzeichnung beginnt. Das Team nimmt sich für jeden Interviewpartner ausführlich Zeit.
"Wir wollen, dass die Menschen, die bei uns vor der Kamera stehen und im Interview so viel von sich Preis geben, sich sicher und wohl fühlen", erklärt die Projektleiterin das Grundprinzip von BorderlessTV. Der Online-Sender ist eine partizipative Plattform, bei der Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte die Möglichkeit haben, ihre eigenen Geschichten zu erzählen – die Mitmachenden werden beim selbstbestimmten Gestalten von Inhalten durch Medien unterstützt. In dieses Konzept passte das besondere Projekt "Live und ohne Grenzen!" perfekt – das Kollektiv von BorderlessTV fördert junge Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und Geschichte, und sensibilisiert so für interkulturelle Themen und Realitäten. Alaa Nassif Makki: "Junge Männer* vor die Kamera zu bringen, die frei über die Themen, die sie bewegen, sprechen können, war uns schon lange ein Anliegen." In den Vorjahren hatte es bereits Projekte für Frauen* und Mädchen* gegeben. "Jetzt haben wir uns bewusst einer neuen Aufgabe gestellt: Einen Kanal für die Themen der jungen Männer* zu entwicklen. Gemeinsam mit der LAG Jungenarbeit haben wir uns die Frage nach Männlichkeit vorgenommen. Das Projektkonzept anhand von diesem Blickpunkt auszu-richten, hat viel Freude gemacht."
Klare Arbeitsstrukturen
Durch die Unterstützung der LAG Jungenarbeit und des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration NRW konnte "Live und ohne Grenzen!" stattfinden, ziemlich unbeeinflusst von der Pandemie-Situation. "Bis auf eine Verschiebung unserer ersten Termine konnten wir vergleichsweise unkompliziert das Projekt umsetzen." Dadurch, dass die Interviews mit sehr wenigen Menschen in einem Raum durchgeführt wurden und viel der Vorarbeit per Telefon, Videoanruf oder Mail- und Text-Kommuikation geschafft wurde, gab es kaum Hindernisse. "BorderlessTV wird auch mit Hilfe der Aktion Mensch, der Stadt Köln, dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW, SozioKultur NRW, Aktion Neue Nachbarn und Komm-an-NRW möglich gemacht", so Alaa Nassif Makka. "Es ist toll, welche Möglichkeiten wir dadurch haben." In der Tat ist das kleine Studio zu dem Zeitpunkt der Projekttermine noch in einem hübschen, typischen Kölner Hinterhof untergebracht. Professionelles Equipment, klare Arbeitsstrukturen werden durchsetzt von aufmerksamer, menschlicher Zugewandtheit: Als der Interviewpartner des heutigen Tages ankommt, gibt es Tee und Kuchen auf den Bistrostühlen. Es ist warm und urban-gemütlich hier vor der Studiotür, über dem Hof ein strahlend blauer Himmel.
Trauma schließt Humor nicht aus
"Ich heiße Bashir Alzaalan", stellt sich der junge Syrer vor. In anderen Zusammenhängen hat er schon Interviews gegeben, aber noch nie an einem Livestream mitgearbeitet. Er arbeitet für die Kölner Freiwilligen-Agentur e.V., bildet Ehrenamtliche aus, zum Beispiel als übersetzende Patient*innen-Begleitung oder bei Amtsgängen. "Bashir ist – wie alle unsere Projekt-Teilnehmer* eine spannende Persönlichkeit", erklärt Alaa Nassif Makka. Das sagt sie nicht, weil jeder Einzelne etwas besonders Ausgefallenes präsentiert, sondern in seiner eigenen Geschichte etwas Besonderes ist. "Wir haben einen Fragenkatalog, den wir vor der Livesendung besprechen und durchgehen." Die Erfahrung vor der Kamera solle schließlich für alle eine schöne sein. Das Konzept geht auf: Beim Betrachten der einzelnen Sendungen fällt auf – alle interviewten jungen Männer* sind entspannt, bringen trotz teils sehr persönlichen und traumatischen Hintergründen Humor und Zuversicht mit ins Gespräch. Das mag auch an der aufgeschlossenen, interessierten Persönlichkeit der Interviewerin liegen. "Die Jungs* nennen mich hier 'Mamita', die Mama des Ganzen", lacht Alaa Nassif Makka. Wenn es eine Verzögerung gibt, weil ein Scheinwerfer oder eine Kamera noch nicht funktioniert, überspielt sie wie ein Fernsehprofi die Zeit gekonnt. Und schon vor der Live-Schalte ist ihr Umgang mit den Studiogästen herzlich und entspannt. "Es gibt keine Tabus, wir können hier über alles reden, aber –", und da wird sie kurz sehr ernst, "es ist uns so wichtig, das Thema Männlichkeit nicht auf Sexualiät zu reduzieren." Niemand wolle die Jungen* und Männer* dazu instrumentalisieren. Ganz im Gegenteil sei es bereits bei der Planung wichtig gewesen, niemanden abzuschrecken, weil Sexualität eine Rolle spielen solle. In allen Gesprächen des "Live und ohne Grenzen!" habe es wie im Titel versprochen keine Grenzen gegeben, aber die Themenauswahl lag komplett bei den Interviewten – so bringen die Interviewten das Geschlechterthema ganz natürlich mit ins Gespräch. Zum Beispiel durch ihr Vatersein. Ein guter Ansatzpunkt für geschlechterpädagogische Reflektion: "Wie geht‘s euch mit dieser Rolle?" Wichtig war, Männlichkeiten divers zu denken, um keine ausschließenden körperlichen oder genderbezogenen Räume zu veranstalten.
Flucht hat nachhaltig geprägt
"Ich war Englischlehrer in Syrien, und habe davon geträumt, diesen Beruf auch hier wieder auszuüben", erzählt Bashir Alzaalan jetzt. "Dazu muss ich hier noch mehr studieren, was aber wegen der Pandemie auch online sehr gut ging, da habe ich viel Zeit gespart." Er lebt seit 2015 in Deutschland, hat vier Kinder – die beiden jüngsten sind hier zur Welt gekommen. "Ich werde im Livestream ein bisschen von meiner Reise hierher berichten." Er hält seinen syrischen Ausweis hoch, eine kleine Plastikkarte, dem Personalausweis nicht unähnlich. Schräg durch die Karte verläuft ein Riss. "Genau wie durch dieses Dokument verläuft ein Riss durch meine Identität." Sanft spricht er darüber, wie sehr die Flucht ihn beschäftigt hat und nachhaltig prägt. "Ich komme aus dem Osten Syriens, aus der Nähe der irakischen Grenze und erzähle im Livestream, warum ich flüchten musste." Kein Platz für Vorurteile, für Annahmen, die keinerlei Grundlage haben. BorderlessTV ist sich auch bei diesem Projekt der eigenen Verantwortung bewusst, lässt niemanden mit seinen Themen allein. Bei 1.500 Followern auf Facebook, und über 2.500 Zuschauer*innen bei Folgen, die im Schnitt über 50 Mal geteilt werden, ist das unerlässlich. "Wir wollen den Zuschauer*innen über so persönliche Geschichten einen Zugang zu den Thematiken ermöglichen, ohne irgendjemanden bloßzustellen", erklärt die Projektleiterin. "Es war wichtig, die Themen Rassismus und Angriffe im Netz im Blick zu haben, weil es sich da um einen ungeschützten Raum handelt. Deswegen haben wir im Vorhinein die Themen der jungen Männer* und die Plattform abgesichert."
„Ich schreibe Gedichte auf Arabisch“
Und Persönliches erzählt der Gast heute. Wie sehr ihn englische Literatur bewegt, nicht nur Thomas Hardy, Charles Dickens oder George Orwell, sondern auch "Wuthering Heights" von Emily Brontë. Dass er selbst Poesie schreibt, erzählt er auch, Gedichte auf Arabisch vorwiegend. "Ich versuche zwar auf Deutsch zu dichten, aber das ist noch schwierig. Aber ich lese auch viel auf Deutsch, das hilft sehr."
Ein Blick zur Projektleiterin und ihrem Team. Sie stehen auf und beginnen im Studio den Livestream vorzubereiten. Bashir Alzaalan macht sich noch mal ein wenig frisch. Nachdem er für ein paar Fotos posiert hat, steht er kurz unschlüssig an der Türschwelle. "Komm ruhig mal rein", ruft Alaa Nassif Makki ihm zu. Sie hat eine Puderdose und einen Pinsel in der Hand. Bashir Alzaalan muss lachen, aber er dreht sich so, dass sie im Licht des Deckenstrahlers sehen kann, wo seine Haut ein wenig zu sehr glänzt. Scheinwerfer verzeihen bekanntlich nichts – und wer will schon bei einem halbstündigen Live-Interview speckig aussehen?
"Der technische Aspekt, die kleinen Details, die eine Rolle spielen, wie zum Beispiel das Make-Up – das mussten wir uns auch alles erarbeiten", erklärt Julia Haarmann von CAT Cologne, der Künstlerresidenz in Köln, die BorderlessTV mitverantwortet. "Und natürlich gab es auch Probleme, die das Konzept mit sich gebracht hat." Natürlich müsse auf eine zuverlässige Verbindlichkeit gesetzt werden. "Und was, wenn es bei einem Interview mal ein paar Längen gibt, greifen wir da ein?" Die Antwort lautete: Nein. Teil des Konzeptes war das Live-Feeling, und somit eine große Nähe, die durch die unverfälschte Darstellung der Persönlichkeiten entsteht. "Wir merken, dass auch bei anderen Redaktionstreffen für andere Projekte eine ähnliche anfängliche Hemmschwelle, sich ganz einzulassen, entstehen kann. Nicht alle kommen immer, manche nur sporadisch, und es gibt auch eine gewisse Mobilitätsgrenze, nicht nur in der Pandemie, aber auch." Aber für die einmaligen Interviews haben die Protagonisten* es sich alle nicht nehmen lassen, ins Studio zu kommen. Julia Haarmann: "Manche Vorbesprechungen waren auch bei Zoom sehr persönlich – und dabei haben wir festgestellt, dass sich viele der jungen Männer* darüber freuen, wenn wir die Sendung teils auf Deutsch und teils auf Arabisch aufzeichnen."
Viele Grenzen gilt es zu überwinden
In ganz unterschiedlichen Gesprächen mit sehr vielfältigen Persönlichkeiten kamen im Laufe des Projekts ebenso schwerwiegende Themen wie Rassismuserfahrungen, Verlust und Zukunftängste vor, wie auch alltäglichere wie der Sportverein, Musik, Familie, Hobbies und Literatur. Im Vorfeld gab es auch logistische Fragen wie "Was, wenn ich die Erstaufnahmeunterkunft während der Pandemie nicht verlassen darf?" zu klären. Immer war es besonders wichtig, die Termine gut vorzubereiten und die Sprecher*innen gut in ihrer persönlichen Auseinandersetzung zu begleiten. Die pädagogische Arbeit fand also hauptsächlich in den vorherigen Gesprächen, weniger "on air" statt.
Alles in allem jedoch immer Themen, die nicht nur den Menschen, der gerade vor der Kamera steht, bewegen, sondern auch seine Familie und Freund*innen über Kölns und NRWs Grenzen hinaus. Genau das wollten die Organsiator*innen mit diesem Projekt ja erreichen – nämlich Grenzen in Köpfen, virtuelle Grenzen, und auch geografische Grenzen überwinden, dabei Offenheit und Vielfalt im Leben der Interviewten präsentieren, und die jungen Männer* ohne diktierte Vorgaben von sich und ihren Erfahrungen erzählen lassen. Ob sie von so schweren Momenten wie der räumlichen Trennung und der Angst um und Sehnsucht nach Frau und Kindern, die noch nicht bei ihnen sein konnten, anfangs bei Ankunft in Deutschland, noch einmal erzählen wollten oder lieber über berufliche Pläne sprechen wollten, das war jedem selbst überlassen. "Manche der Teilnehmer* haben in dem Land, aus dem sie kommen, einen ganz anderen Beruf gemacht als jetzt hier und mussten komplett umschulen, andere haben hier erst ein Studium angefangen oder berichten von den Gefahren, die ihr Beruf "zu Hause" mit sich gebracht hat – zum Beispiel wenn sie als Journalist oder Fotograf gearbeitet haben. Die Begleitung vorab und die Unterstützung darin, die gewünschten Inhalte nachvollziehbar aufzubereiten, schufen den sicheren Rahmen, der bei solch sensiblen Themen unbedingt nötig ist.
Hier im Studio mitten in Köln, weit weg von der Heimat, beginnt die Livestream-Sendung, alle sind gespannt und konzentriert, wie die Sendung verlaufen wird. Draußen wird es langsam dämmrig, während die Scheinwerfer den hohen weißen Tisch und die beiden Gesprächs-partner*innen, Alaa Nassif Makki und Bashir Alzaalan, anstrahlen. Mit dem Licht über der Kamera beginnt auch Bashirs Gesicht zu leuchten. Und das einzige, was glänzt, ist die Ausweiskarte mit dem feinen Riss.
Spannend und professionell
Das Projekt baut auf einem bestehenden Konzept der Berichterstattung in Livestreams auf, integriert die Teil-nehmenden und involviert Mitarbeiter*innen des Kollektivs auf technischer, kultureller, medialer und integrativer Ebene. Dadurch gibt es ein spannendes und für alle Seiten professionelles Ergebnis, das aufgrund der öffentlichen Natur des Projektes eine sehr nachvollziehbare Nähe ermöglicht. Die Vorgespräche und Themenabsprachen wurden offen gestaltet und die teilnehmenden jungen Männer* konnten sich gut einbringen.
(Text: Mareike Graepel)
Projektleiter*innen & Kontakt
Alaa Nassif Makki
BorderlessTVKöln
borderlesstv@catcologne.org
www.borderlesstv.eu
Julia Haarmann
CAT Cologne
Christinastr. 12
50733 Köln
info@catcologne.org