Referent*innen im Gespräch
"Die Arbeit pädagogischer Fachkräfte wirkt therapeutisch und heilsam"
5 Fragen an... Sabine Haupt-Scherer
Sabine Haupt-Scherer ist Pfarrerin im Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen, Supervisorin, Traumapädagogin und Traumafachberaterin, Bildungsreferentin im LWL-Bildungszentrum Jugendhof Vlotho und gehört zu den Referent*innen im Fortbildungsangebot der LAG Jungenarbeit NRW.
Im Anschluss an die Fortbildung „Ich glaub, ich bin im falschen Film!/Traumapädagogik in der Jungenarbeit“, die sie regelmäßig zusammen mit Dirk Achterwinter im Rahmen des Fortbildungsprogramms „irgendwie anders?!“ der LAG Jungenarbeit NRW anbietet, hat sie uns fünf Fragen zum Thema „Traumapädagogik“ beantwortet…
1) Welchen Effekt hat das Wissen um Traumata und Traumapädagogik direkt auf den Arbeitsalltag von pädagogischen Fachkräften?
Sabine Haupt-Scherer: "Der Alltag pädagogischer Fachkräfte mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen ist extrem anstrengend, manchmal auch kränkend, weil man auf die eigenen Bemühungen so wenig Resonanz bekommt. Der Traumapädagoge Martin Kuhn beschreibt den Alltag mit Traumatisierten mit dem Spiel Minesweeper. Jederzeit kann man – egal wie gut man es meint – auf eine Mine treten und die Situation explodiert. Traumatisches Material wird getriggert, sagt die Traumapädagogik. Natürlich ist deshalb der Wunsch der meisten pädagogischen Fachkräfte, wenn sie sich mit Trauma beschäftigen: ,Ich will wissen, wo der Knopf ist, wo man das abstellen kann!'.
Im Laufe einer Fortbildung wird dann deutlich, dass die entscheidende Entlastung die ist, dass man die Dinge, die einen im Alltag belasten und verwirren, endlich verstehbar werden.
So war das auch bei mir, als ich Traumapädagogik kennenlernte. Da hab ich sicher schon 20 Jahre Seelsorge, Beratung, Supervision und Pädagogik gemacht gehabt (und hoffentlich nicht immer nur schlecht), aber ich habe zum ersten Mal Verhaltensweisen verstanden, wo ich sonst nur gedacht habe: Was war das denn? Und das hat mich dann gelassener gemacht. Es hat mein Bild von Pädagogik und Beratung und mein Menschenbild wie vom Kopf auf die Füße gestellt. Es hat zunächst meine Haltung verändert, hat mir dann aber auch die Möglichkeit gegeben, anders, zielgerichteter, angemessener und hilfreicher zu reagieren."
2) Wie "klein" bzw. übersehbar – aus erwachsener Sicht – kann ein Trauma auslösendes Erlebnis sein?
Sabine Haupt-Scherer: "Wenn wir das Wort ,Trauma' hören, denken wir oft an große Katastrophen: Unglücke, Massenkarambolagen, Schulattentate, 11. September. Ein Trauma ist aber alles, was subjektiv unsere Existenz bedroht und uns ohnmächtig macht, weil wir weder fliehen noch kämpfen können. Für ein sehr kleines Kind ist es eine Existenzbedrohung, allein gelassen zu werden. Es weiß ja noch nicht, dass seine Fürsorgeperson in 30 Minuten wieder da ist, und ,denkt' 30 Minuten, es müsse jetzt verhungern. Oder eine schmerzhafte Behandlung, die es nicht versteht, und wo es den Behandler als Feind und Bedrohung erlebt. Wir sprechen dann von notwendigen medizinischen Misshandlungen. Oder: früher unangemessener Gewaltkonsum in den Medien kann traumatisch wirken, wenn er die Verarbeitungsmöglichkeiten des Einzelnen überfordert."
3) Wie schnell müssen pädagogische Fachkräfte ein Trauma erkennen und bearbeiten, um überhaupt noch einen Ausheilungsprozess erreichen zu können?
Sabine Haupt-Scherer: "Was die Behandlung von Traumata bei Kindern und Jugendlichen angeht, würde ich gern den Zeitdruck nehmen. Traumatisierte Kinder und Jugendliche brauchen erst einmal Ruhe und Struktur. In einer angemessen schützenden und fördernden positiven Umgebung können viele Traumata ausheilen ohne therapeutische Intervention. Wo das nicht der Fall ist, ist Therapie der zweite Schritt. Traumatisierte Kinder brauchen zuerst Erwachsene, die freundlich, ruhig, zugewandt und ungefährlich sind, auf ,grün' bleiben können, wie es Stephen Porges sagt. Und die ,klüger, weiser und stärker' sind, wie es Bowlby als Gewährsmann der Bindungstheorie sagt. In sicheren Bindungsangeboten finden diese Kinder Halt. Sie brauchen Schutz vor Gewalt und Aufregung (auch in den Medien) und einen Alltag, der eine vorhersagbare Struktur und möglichst wenig Überraschungen enthält. So kann das Gehirn ein neues Muster von Sicherheit und Selbstwirksamkeit bilden. Diese Musterbildung braucht Zeit, Geduld und viele Wiederholungen. Dann kann sich das Gehirn auch noch in späteren Jahren wieder umstrukturieren.
Hier bietet das Jugendlichenalter (Pubertät und Adoleszenz) eine besondere Chance und Gefahr. Einerseits werden im Frontalhirn Netzwerke von Neuronen noch einmal gelöst und neu strukturiert, weshalb schon erlernte Regeln nicht mehr so gut gelingen, andererseits können jetzt noch einmal gesündere Strukturen angelegt werden."
4) Mit welchem Selbstverständnis sollten Fachkräfte in die pädagogische Arbeit zu Traumata gehen?
Sabine Haupt-Scherer: "Die Arbeit pädagogischer Fachkräfte wirkt therapeutisch und heilsam, auch wenn sie keine Therapie ist. Und auch die beste Therapie ist auf einen heilsamen therapeutischen Kontext angewiesen, um wirken zu können. Eine gute Kooperation zwischen pädagogischen Fachkräften und Therapeut*innen ist für das Kindeswohl unerlässlich. Und pädagogische Fachkräfte unterschätzen oft ihre Möglichkeiten, während sie mit der Therapie Allmachtsfantasien verbinden."
5) Welche Selbstsorge bietet sich für pädagogische Fachkräfte in der Traumapädagogik an?
Sabine Haupt-Scherer: "Trotz alledem: pädagogische Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen bleibt anstrengend. Man wird immer wieder mit starken Gefühlen und Körperreaktionen konfrontiert, die auf die eigene Gefühlswelt und das eigene Körpererleben ,überspringen' können. Ein Trauma ist ansteckend, sagt man dann. Fachleute sprechen von ,sekundärer Traumatisierung'. Dagegen hilft, die Beschäftigung mit ,Trauma-Themen' zu begrenzen, für Ablenkung und Ausgleich zu sorgen. Sport ist wichtig, um die Anspannung und die Stresshormone aus dem Körper zu bekommen. Entspannungstechniken und Erfahrungen von Verbundenheit können ein Gegengewicht zu dem bilden, was im Trauma so zerstörerisch wirkt: zu Gewalt und Ohnmacht, Aufregung und Vereinzelung. Dazu mutterseelenallein einer Existenzbedrohung ausgeliefert zu sein."
Interview: Verena Waldhoff