Männlichkeit und Radikalisierung
Männlichkeit und Radikalisierung | Ein geschlechtersensibler Blick auf Ursachen und Empfänglichkeit
Von Diana Wiesner
Angesichts globaler politischer Entwicklungen, sozialer Unruhen und zunehmender Extremismusphänomene stellt sich weltweit die Frage, wie demokratische Werte bewahrt und gleichzeitig die Radikalisierungstendenzen eingedämmt werden können. Die Debatte umfasst eine Vielzahl von Aspekten, darunter die Rolle von Bildung und Medien bei der Stärkung demokratischer Werte, die Herausforderungen der digitalen Welt in Bezug auf die Verbreitung von radikalen Ideologien sowie die Rolle staatlicher Institutionen im Umgang mit radikalisierten Gruppierungen. Zudem wird diskutiert, wie die demokratische Teilhabe und Integration aller Bevölkerungsgruppen gefördert werden können, um Radikalisierung entgegenzuwirken.
In den letzten Jahren hat die Radikalisierung junger Männer – sei es in Form von religiösem Extremismus, politischem Radikalismus oder anderen Formen (Unterschiede im Video) – verstärkt die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sodass die Rolle von Geschlecht in den aktuellen Debatten nicht außen vorgelassen werden kann. Die Frage, die sich hieran stellt: Warum kommt es zu diesen Haltungen und Handlungen bei Jungen und jungen Männern? Warum sind sie in den Statistiken überrepräsentiert?
Faktor M
Inwiefern geschlechtsspezifische Faktoren eine Rolle spielen, wurde im Rahmen des Projektes „Der Faktor M. Männlichkeit und Radikalisierung – Wissensgrundlagen für die Praxis“ (Theunert 2024) untersucht. Das Projekt unterstützt die Umsetzung des Schweizer Nationalen Aktionsplans zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus 2023-2027. Darin wird speziell auf die Verbindung zwischen Radikalisierungsdynamiken, geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozessen und kulturellen Geschlechternormen eingegangen.
Der im Zuge des Projektes erstellte Leitfaden gibt Aufschluss darüber, woran sich Radikalisierungstendenzen und extremistische Einstellungen männlichkeitssensibel erkennen lassen.
Die fünf identifizierten Dimensionen bilden ab, welche Einstellungen und Überzeugungen in Bezug auf Männlichkeit mit Radikalisierungsdynamiken verknüpft sind. Allem voran steht die Annahme von Männlichkeit als biologisch erhabenem Geschlecht.
Die Idee eines männlichen Idealbildes und einer natürlichen Hierarchie vermitteln, dass es eine „bessere“ und „eine schlechtere“ Männlichkeit gibt. Dabei wird "besser“ oft mit Merkmalen wie Dominanz, Stärke, Unabhängigkeit, Durchsetzungsvermögen und Kontrollfähigkeit assoziiert. Merkmale wie Sensibilität, Empathie, Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit und emotionaler Ausdrucksfähigkeit werden dagegen abgewertet.
Der Wunsch, einem idealisierten Männlichkeitsbild zu entsprechen, kann Jungen einerseits dazu veranlassen, ihre Männlichkeit durch extremes Verhalten zu beweisen und sich in männlich dominierten Gruppen zu behaupten. Andererseits wird sich gegen Abweichungen vom vermeintlichen Idealbild gewehrt. Zudem kann die internalisierte Überzeugung von der Überlegenheit des männlichen Geschlechts zu feindseligem Verhalten gegenüber Frauen und zu einer Ablehnung von Geschlechtergleichstellung bzw. feministischen Ideen motivieren. Die Beziehungen zu anderen Jungen oder Männern der Gruppe bekommen einen höheren Stellenwert ebenso wie autoritäre Einstellungen und Handlungsweisen.
Psychologische Aspekte während der Radikalisierung
Aus einer sozialkognitiven Perspektive betrachtet sind Radikalisierungsprozesse komplexe individuelle psychologische Vorgänge, bei denen die Interaktion zwischen verschiedenen Einflüssen aktiv verarbeitet und interpretiert wird. Das heißt, Gedanken und Gefühle entwickeln sich allmählich, während eine Person mit der Umwelt interagiert und neue Informationen verarbeitet.
Frustrationserleben und Faszination
Radikalisierung geht ein Frustrationserleben voraus, welches sich aus der eigenen Biografie in Wechselwirkung mit der Umwelt heraus entwickelt. Jungen können sich demnach radikalen Ideen zuwenden, wenn sie sich z.B. ungerecht behandelt fühlen oder denken, nicht genug zu haben bzw. nicht genug zu sein.
Das aus diesem Vergleich entstehende negative Selbstbild kann bewirken, dass Jungen nach Bestätigung suchen und daher für Ideen sowie Ziele einer Gruppe zugänglich sind, welche die subjektiven Leiderfahrungen rechtfertigen und von der sie sich verstanden fühlen. Ansichten und Einstellungen, wie sie im Projekt-Leitfaden beschrieben werden, gehen auf das Bedürfnis nach Verständnis, Zugehörigkeit und Sicherheit ein und bieten ein vermeintliches Korrektiv für die empfundene Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit. An dieser Stelle wird von der Faszinationsphase gesprochen.
Im Alltag können Jungen verschiedene Situationen erleben, die zu negativen Vergleichen führen. Diese Vergleiche können nicht nur Wut und Frustration auslösen, sondern auch bewirken, dass Jungen keine negative Dissonanz erfahren, wenn sie sich radikalen Ansichten zuwenden. Das heißt, sie fühlen sich durch reale Erlebnisse und Widerfahrnisse in den Aussagen bestätigt.
Von der Faszination zur Radikalisierung
Von Radikalisierung kann am Übergang vom negativen Empfinden auf der individuellen Ebene zur proaktiven Teilnahme an der kollektiven Identität gesprochen werden. Die Person identifiziert sich immer mehr mit der Gruppe und übernimmt ihre Ideen als Teil ihrer eigenen Identität. Dieser werden subjektiv viele positive Eigenschaften zugeschrieben, sodass Wut- und Frustrationsempfinden zu positiven Emotionen sowie einem positiveren Selbstbild umgewandelt werden. Gleichzeitig wird sich von anderen Gruppen (Familie, Schule) und ihren Interpretationssystemen distanziert, sodass die eigenen Haltungen und Handlungen eine immer stärker polarisierende Sicht widerspiegeln. Bestätigung, Unterstützung sowie auch Druck erhält die Person von Gleichgesinnten/Peers. Diese proaktive Teilnahme zeigt sich z.B. im Internet durch das Verfassen von Hasskommentaren oder die Verherrlichung und Anwendung von Gewalt im privaten wie öffentlichen Raum.
Takeaway für die Praxis
Kindheit und Jugend stellen intensive Phasen der Identitätsfindung und Orientierung dar, in denen Heranwachsende nach Gemeinschaft, Anerkennung, Sicherheit und Stabilität suchen. Empirische Untersuchungen wie die Einsamkeitsstudie legen jedoch nahe, dass diese sozialen Bedürfnisse zunehmend auf der Strecke bleiben. Oft haben Jungen wenig Räume, in denen sie über ihre Gefühle und Sorgen sprechen können.
Persönliche Unsicherheiten im Zusammenspiel mit Frustrationserleben können einen Jungen dazu veranlassen, Räume aufzusuchen, in denen seine Sorgen und Probleme aufgefangen werden. In radikal männlichkeitsideologisch geprägten Räumen treffen Jungen auf Personen mit essentialistischen, hypermaskulinen, misogynen, homosozialen und/oder autoritären Denk- und Verhaltensweisen. Diese können das Gefühl vermitteln, dass bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit, die Merkmale wie Stärke, Dominanz und Aggression betonen, ihre persönlichen Unsicherheiten und Frustrationen lösen könnten. Häufig werden Jungen dazu ermutigt, externalisierendes Verhalten zu zeigen.
Wird weder die Gruppenidentität noch ihre Ideologie (ausreichend) hinterfragt, kann die anfängliche Faszination ein Schritt in Richtung Radikalisierung darstellen, die sich wiederum durch eine proaktive Reproduktion der Überzeugungen und Werte der Gruppe erkennen lässt. Bemerkt man diese Entwicklung als Fachkraft, ist es ratsam, die Kommunikation aufzunehmen, ohne sich in schwierig zu moderierende Debatten zu begeben. Belehrungen führen oft zu reaktionärem Verhalten. Der Fokus sollte daher weniger darauf liegen, Pro- und Contra-Argumente aufzulisten, sondern vielmehr darauf, die Logikfehler und Unstimmigkeiten der jeweiligen Überzeugungen aufzudecken und sie zu dekonstruieren. Ist die Quelle glaubwürdig? Wo bestehen Widersprüche in den Aussagen und/oder Taten? Welchen Mitteln bedient sich die Quelle (z.B. Emotionalisierung, Othering)? Auf diese Weise können Fachkräfte dazu beitragen, ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen und die jungen Menschen zu ermutigen, ihre eigenen Überzeugungen kritisch zu reflektieren. Parallel dazu kann es helfen, zum einen schlüssige Alternativen und zum anderen Unterstützung anzubieten, um positive Erfolgserlebnisse zu fördern (➜ Chancengerechtigkeit).
Diana Wiesner (Soziologin & Gesundheitswissenschaftlerin) ist Referentin der LAG Jungenarbeit NRW e.V. für Öffentlichkeitsarbeit.
Referenzen
Sicherheitsverbund Schweiz. (2023). Nationaler Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus 2023 – 2027. www.svs.admin.ch.
Theunert, Markus. (2024). Der Faktor M. Männlichkeit und Radikalisierung. Wissensgrundlagen für die Praxis. Bern/Zürich. www.maenner.ch/radikalisierung