"Jungs* kommunizieren Gesundheitsprobleme eher selten"
"Jungs* kommunizieren Gesundheitsprobleme eher selten"
Diesen Text finden Sie auch in dieser Ausgabe von Junge*Junge: 01/2021 "Fokus: Jungen* und Gesundheit".
Zur Person: Hans-Jürgen Kesper ist niedergelassener Kinderarzt in der Nähe von Marburg und betreibt die ländlich geprägte Praxis zusammen mit seiner Frau. Während seiner klinischen Zeit lagen seine Schwerpunkte im Bereich der Kindergastroenterologie und in der Kinderendokrinologie. Kesper ist außerdem Asthmatrainer und bietet in diesem Zusammenhang Kurse für Kinder an. |
Kinderarzt Hans-Jürgen Kesper spricht im Interview über seine Beobachtungen im Praxisalltag, über Krankheitsbilder und Verhaltensweisen von Jungen* und ihren Eltern.
Wie häufig suchen Jungs* und junge Männer* Sie in der Praxis durchschnittlich auf? Gibt es dabei einen Unterschied zwischen Jungen* und Mädchen*?
Hans-Jürgen Kesper: Man würde wahrscheinlich sagen, dass Jungs* nur kommen, wenn es unbedingt sein muss, wenn wirklich ein schwerwiegendes Problem vorliegt, das sie selber vortragen wollen. Häufig wird dabei ein Elternteil, meistens die Mutter, als Fürsprecherin oder Übersetzerin gebraucht. Bei den Mädchen*, die in die Praxis kommen, geht es oft um psychosomatische, psychologische oder soziale Probleme. Wir Kinderärzte werden dann aufgesucht, um die Brücke zwischen Psyche und Soma zu begehen und zu schauen, ob es Grund gibt eine Sorge aus der Welt zu schaffen. Häufig sind die Eltern sehr nah an den Kindern dran. Bedingt dadurch schaukelt sich die Sorge hoch, es könne hinter einer psychisch erscheindenden Symptomatik doch etwas Organisches stecken. Wir sind dann die Spezialisten, die sinn- und maßvoll organmedizinische Diagnostik durchführen oder veranlassen, um wirklich zu klären, dass hier kein organisches Problem vorliegt. Das ist den Eltern immer besonders wichtig.
Wie erleben Sie heranwachsende junge Männer* bzw. männliche* Jugendliche in Hinsicht auf ihre Gesundheit, mögliche Erkrankungen und ihre Körper?
Hans-Jürgen Kesper: Wir wünschen es uns eigentlich als Kinderärzte, dass Jungs* gern zu uns kämen, aber das ist leider nicht unbedingt der Fall. In der vorschulischen Zeit ist der Kinderarzt sicherlich der freundliche Doktor, der aber am Ende impft, und der Kontakt zum Kinderarzt ist doch oft von dieser Sorge geprägt. Wenn die Kinder chronische Krankheiten haben, kommen sie sowieso und bauen ein Vertrauensverhältnis auf, das sehr schön und dankbar ist und dann auch über viele Jahre hält und mit den Kindern wächst. Wenn Kinder keine wesentlichen Gesundheitsprobleme haben, tauchen sie mit sieben bis acht Jahren und mit neun bis zehn für die U10 oder für die U11 auf. Sie sind dann aber eigentlich nicht freiwillig da, werden auf Wunsch der Eltern durchgecheckt und sind froh, wenn sie wieder draußen sind. Ähnlich verhält es sich bei der J1 mit 13 bis 15 Jahren. Diese Untersuchung findet in einer Situation statt, in der die Jungs* den Kinderarzt oft Jahre nicht gesehen haben.
"Jungs* wollen tendenziell in Ruhe gelassen werden"
Man kann das natürlich als Kinderarzt professionell in der Gesprächsführung auffangen und auf Annäherung, aber auch auf Distanz achten, weil in dieser Altersgruppe ein großes Schamgefühl eine Rolle spielt. Bei Symptomen, die einem manchmal entgegenspringen und die gesundheitlicher Art sein könnten – wie Übergewicht, Akne oder Allergien – sagen die Jungs* von sich aus häufig, dass sie keine Probleme damit haben. Sie wollen eigentlich tendenziell auch hier in Ruhe gelassen werden, so dass in den Gesprächen dann eben Angebote für künftige Kontakte ausgesprochen werden. Da unterscheiden sie sich schon von Mädchen*, die solche Themen gerne ansprechen und sich auch beraten lassen. Insgesamt muss man aber sagen, dass sowohl für Mädchen* als auch Jungs* der Kontakt zum Kinderarzt zu selten ist, um der erstgewählte Ansprechpartner für besondere Probleme zu sein.
Können Sie Unterschiede in den tatsächlichen Krankheitsbildern von Jungen* und Mädchen* feststellen? Wenn ja – sind diese eher biologisch-/körperlich- oder sozial-/verhaltensbedingt?
Hans-Jürgen Kesper: Jungs* sind häufiger eher zurückgezogen, kommunizieren ihre Gesundheitsprobleme nur in den selteneren Fällen innerhalb der Familie, sind verschämter, schließen sich meistens im Bad ein. Die Eltern wissen nicht, ob es Probleme mit den Genitalien gibt. Die Jungs* gehen meistens davon aus, dass alles in Ordnung ist. Es gibt eine gute Broschüre vom Berufsverband der Kinderärzte, bearbeitet von Dr. Bernhard Stier, die ich in der Regel den Jungs als Gesprächsangebot mitgebe, damit sie sich darüber orientieren, welche Auffälligkeiten darin stehen. Wegen Knoten am Hoden oder wegen Blut aus der Harnröhre wird man als Kinderarzt in meiner Erfahrung selten angesprochen. Das Vertrauen der Jugendlichen, der Jungs*, muss erarbeitet werden.
Bei den Frühpubertären kommen Jungs* häufiger mit den Müttern, wenn Sie eine erste Brustknospung haben, was sie immer sehr stark verunsichert. Dann gibt es ein aufklärendes, freundliches Gespräch und man kommuniziert gemeinsam, dass sich nun Veränderungen andeuten. Das kann dann manchmal auch Anlass sein, über das Gewicht zu sprechen, weil die Brustentwicklung, die über den hormonellen Schub angestoßen ist, bei übergewichtigen Jungs* andere Auswirkungen hat als bei normalgewichtigen. Allein wegen des Gewichtes kommen Jungs* aber eigentlich nie. Sie werden manchmal deshalb gebracht, hauptsächlich aber freuen sich Eltern darüber, wenn das Thema Gewicht in der ärztlichen Untersuchung angesprochen wird und wenn man mit den Jugendlichen ins Gespräch kommt und dann ein Gespräch zu dritt über das Gewicht stattgefunden hat.
"Überforderung im Sport sehen wir häufig bei Jungs*"
Dadurch, dass bei uns immer Männer* und Frauen* in der Praxis sind und wir uns bemühen, dass die Kinder eine*n gleichgeschlechtliche*n Ansprechpartner*in bekommen, laufen manche Dinge sicherlich ganz gut, was solche Probleme anbetrifft.
Jungs* kommen relativ häufig wegen Sportproblemen, insbesondere im Kniebereich, in die Praxis. Bei denjenigen, die Leistungssport betreiben, egal ob Jungs* oder Mädchen*, kommen auch bisweilen Jugendliche zu uns in der Hoffnung, dass wir Ihnen weiterhelfen können, weil leider die sportärztliche Betreuung in manchen Leistungskadern nicht gut ist. Für uns liegt dann oft auf der Hand, dass da doch Überforderungssituationen beim Turnen, beim Handball, beim Fußball vorliegen, die von den zuständigen Leuten nicht in ausreichender Art und Weise angegangen werden.
Psychische Probleme treten bei Jungs* relativ häufig auf, aber sie werden selten an den Kinderarzt, an den Kinderpsychologen oder -psychiater herangetragen. Bei Mädchen* ist das offensichtlicher, da sehen wir zum Beispiel sehr viel mehr Jugendliche mit Essstörungen. Depressive ängstliche Verstimmungen, Mobbingsituationen treten natürlich bei Jungs* und Mädchen* auf, aber wir als Kinderärzte werden häufiger von Eltern wegen ihrer Töchter* aufgesucht.
Mit welchen Anliegen, Wünschen, Verunsicherungen, etc. treten Eltern von Jungen* an Sie heran? Welche Themen stehen für Eltern von Mädchen* im Vordergrund? Und: Wer begleitet Jungen* überwiegend beim Praxisbesuch?
Hans-Jürgen Kesper: Jungs* werden häufiger gebracht, wenn sie nicht gut wachsen, wenn sie relativ klein sind. Es ist für Eltern, insbesondere Mütter, häufig sehr schwierig, wenn sie kleine Söhne* haben und wenn sie darauf warten, dass die Söhne* endlich groß werden, dass endlich die Pubertät kommt. Es besteht da häufig ein gewisser Leistungsdruck. Es gibt oft die Nachfrage nach spezialisierter Diagnostik, auch wenn auf der Hand liegt, dass es nur eine einfache Entwicklungsverzögerung ist.
Jungs* und Mädchen* werden bei psychischen Problemen von den Eltern gebracht, hauptsächlich von den Müttern, es ist ganz selten dass ein Vater dabei ist. Wir erleben ja leider relativ viele Trennungen, wenn wir Kinder über Jahre hinweg betreuen. Die Kinder sind meistens bei den Müttern, es gibt hier und da auch Väter, die konsequent und regelmäßig mit den Kindern kommen, aber meistens sind es die Mütter.
"Schulische Probleme als Grund für den Arztbesuch"
Bei Jungs* wie bei Mädchen* gibt es oft Anlässe aus dem schulischen Bereich, wenn es dann darum geht zu klären, woher Probleme kommen, in welcher Art und Weise, sei es psychologisch, sei es lerntherapeutisch, sei es möglicherweise auch durch Medikamente, das Lernproblem angegangen werden kann. Wir haben oft den Eindruck, dass die Lehrer in den Schulen überfordert sind, wenn sie mit schwierigen Kindern zu tun haben, und dann relativ schnell etwas aus der Hüfte geschossen wird. Wir Kinderärzte müssen dann eine differenzierte Diagnostik veranlassen, um zu schauen, wo das Problem tatsächlich liegt. Diese schulischen Probleme gibt es sowohl bei Mädchen* wie bei Jungen*, vielleicht etwas häufiger bei Jungen*.
Emotionale Probleme werden häufiger im Zusammenhang mit Mädchen* an uns herangetragen. Bei Jungs* sind es dann oft sehr viel gravierendere Probleme, wegen denen Jungs* bei uns vorgestellt werden. Auch dann sind wir häufig diejenigen, die die Probleme mit den Eltern durchdiskutieren und schauen, wo, an welcher Stelle kontinuierlich eine Betreuung der komplexen Probleme erfolgen kann.
Interview: Verena Waldhoff