"Ich bin der Pädagoge, den ich selbst gebraucht hätte"
Projekt "Allemann" in Düsseldorf
Dieser Artikel ist erschienen in: Rheinische Post, 1.12.2020.
Von Verena Kensbock
Düsseldorf. Malte Schulz leitet das Diakonie-Projekt Allemann und ist für die Jungen, die er betreut, mal Mentor, mal Kampfgegner, mal Vaterersatz.
Als im März die Schulen schlossen, die Spielplätze abgesperrt waren und die Vereine das Fußballtraining absagten, vergingen nur zwei Tage, bis sich eine Mutter bei Malte Schulz meldete. Sie sei alleine mit ihren fünf Kindern in der Wohnung und wisse nicht, was sie tun solle. Also packten Malte Schulz und sein Team Anti-Langeweile-Pakete mit Kreide und Windeln und Playstation-Online-Zugängen. Begleitetes Zocken habe er dann angeboten, immerhin, denn sonst war ja alles abgesagt und einfach telefonieren wollten die Jungen auch nicht. Doch jedes Mal nach 20, 30 Minuten, berichtet Malte Schulz, war das Spiel nebensächlich und er hat einfach mit den Jungen geredet.
Malte Schulz ist 40 Jahre alt, trägt Glatze, der Bart ist ergraut. Aber in einigen Momenten wirkt er so flapsig wie einer der Jungen, mit denen er zusammenarbeitet. Er leitet das
Projekt Allemann der Diakonie Düsseldorf. Holz hacken, Feuer machen, Kampfesspiele – bei den Treffen sollen sich die Jungen ausprobieren, abreagieren, ihre Männlichkeit neu
definieren. Aber auch über ihre Probleme sprechen und Hilfe bekommen in der Familie, in der Schule oder in der Ausbildung.
Die Jungen, die bei Allemann mitmachen, sind fast alle sozial benachteiligt, wie es so oft heißt. Sie kommen aus ganz Düsseldorf, aus allen sozialen Schichten – aus armen Familien, mit psychisch kranken Eltern, ganz oft sind die Mütter alleinerziehend. Das Jugendamt vermittelt die Jungen an das Projekt, wenn Eltern, Lehrer oder Sozialarbeiter Alarm schlagen. Es sind Jugendliche, die die Schule schwänzen, die Drogen nehmen und stehlen, die Gewalt ausüben und Gewalt erfahren, die sich zurückziehen vor ihre Computer. Natürlich geht es bei Allemann, dem Projekt, das nur für Jungen gedacht ist, um Männlichkeit. Aber in all ihren Facetten – emotional oder stark oder toxisch. Die Jungen sollen in den Einzel- und Gruppentreffen lernen, was es heißt, ein Mann zu sein. "Der Wunsch nach Schutz bei den Jungen ist groß. Die interessieren sich fast alle für Kampfsport oder Pumpen", sagt Malte Schulz. "Dabei müssen sie nicht die ganze Zeit stark sein. Das wäre unheimlich anstrengend." Allemann soll auch ein Raum sein, wo die Jungen unbeobachtet sind von Eltern, Lehrern, Mädchen, "wo sie ihren Schutzpanzer ablegen können".
Die Treffen macht er mit seinem Exoten-Team, wie Malte Schulz sagt, weil es aus sechs männlichen Pädagogen besteht. Sie sprechen über Hobbys und Familie, über die Mutter
und ihren neuen Freund, über Pornografie und den Vater, der nicht da ist. "Der Vater ist ganz wichtig", sagt der Pädagoge. Und selbst wenn die Jungen einen Vater haben, brauche es manchmal Mentoren. "Was häufig fehlt, sind Vorbilder, die bildungsorientiert sind", sagt er. Flache Witze über Frauen seien streng verboten. Stattdessen wollen die Pädagogen eingefahrene Rollenbilder in Frage stellen. Wenn einer der Jungen sich darüber lustig macht, dass Frauen nicht Auto fahren können, dann erzählt Malte Schulz von seiner Mutter, die als Altenpflegerin ihren Wagen so geschickt durch die Stadt bewegt, wie er es nie könnte. "Ich bin Mädchen-Papa. Ich kann gar nicht anders, als feministisch zu sein", sagt er.
Es wird aber nicht nur geredet bei den Treffen, sondern auch gekämpft. Die Kampfesspiele sind ein wichtiger Teil der Arbeit, ein kontrolliertes Rangeln, bei dem die Jungen ihre Kraft rauslassen können, bevor sie in Aggression umschlägt. Sich körperlich messen und behaupten, ohne gewalttätig zu sein – das helfe auch dabei, Grenzen zu akzeptieren und ein realistisches Selbstbild zu entwickeln. "Die Kraft des anderen ist ein Geschenk", sagt Schulz. "Am Ende liegen sich die Jungen meist in den Armen."
Seit fast zehn Jahren macht Malte Schulz diesen Job nun. "Ich bin der Jungen-Pädagoge, den ich selbst gebraucht hätte", sagt er. Dabei habe er niemals Pädagoge – und somit wie sein Vater – werden wollen. Dem gebürtigen Düsseldorfer hatten seine Lehrer prophezeit, dass er die Schule ohne Abschluss verlassen würde, doch Schulz absolvierte sein Abitur und bewarb sich an einer Schauspielschule, an der er aber nie anfing. Stattdessen studierte er Sport, baute viele Jahre politische Mottowagen in der Werkstatt von Jacques Tilly. Über ein Kunstprojekt an einer Schule in Wersten kommt er dann doch zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Seine beiden Kinder zieht er alleine groß, seine Frau starb vor einigen Jahren an Krebs.
Und er bewegt sich als Mann in einer Frauendomäne, in der er ausschließlich mit Jungen arbeitet. Das, sagt er, sei wiederum zum Vorteil der Mädchen. "Männer sind die größte Gefahr für Frauen", sagt er. "Und Gewalt hat immer eine Historie. Wenn wir diesen Kreislauf unterbrechen, profitieren davon auch die Frauen."
INFO: Finanziert vom Jugendamt Düsseldorf
Kosten. Das Projekt Allemann ist bei der Diakonie Düsseldorf angesiedelt. Die Finanzierung läuft zum größten Teil über das städtische Jugendamt, über die sogenannten Hilfen zur Erziehung. Der Rest kommt durch Spenden zusammen.