What are the chances!
Glück ist mehr als Zufall | Ein Rückblick auf die Konferenz Praxis der Jungenarbeit 18
Von Diana Wiesner
Die Veranstaltung "Praxis der Jungenarbeit" bietet Fachkräften bereits seit 24 Jahren eine Plattform, um über die komplexen Themen der Jungenarbeit zu diskutieren und praktische Einblicke sowie Ansätze für die Arbeit mit Jungen* und jungen Männern* zu erhalten. Nach dreijähriger Pause fand die diesjährige und 18. Konferenz Mitte August unter dem Titel "Macht Jungenarbeit glücklich? Oder: Zur Bedeutung des Glücks für Jungen* und Jungenarbeiter*" statt. Wir rekapitulieren und blicken auf die Chance von Jungen, glücklich zu sein.
Inhaltlich startete die Konferenz mit einem Hauptvortrag von Christoph Blomberg, Professor für Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Paderborn. In seinem Vortrag beleuchtete er verschiedene Aspekte rund um das Thema Glück in der Sozialen Arbeit und Pädagogik mit Jungen*. Glück definierte er als ein facettenreiches Konzept, das weit über den Aspekt Spaß hinausgeht. Es entstehe vielmehr aus einem komplexen Zusammenspiel von verschiedenen Elementen wie relativer Sicherheit, Freiheit und Gesundheit. Dabei betonte Blomberg, dass Glück nicht nur aus positiven Erfahrungen bestehen bzw. daraus hervorgehen kann. Auch Herausforderungen zu bewältigen, Ungewissheit zu akzeptieren und Leiderfahrungen auszuhalten können zum eigenen Glückserleben beitragen.
Der Vortrag thematisierte darüber hinaus gesellschaftliche Bedingungen, die Lebensrealitäten von Jungen* rahmen und beeinflussen. Darunter können sowohl materielle Güter als auch gesellschaftliche Institutionen und soziales Kapital verstanden werden. Die Art und Weise der Sozialisation, die Erfahrungen innerhalb unserer Leistungsgesellschaft und ihren sozialen Strukturen wie dem Bildungssystem sowie der Grad der persönlichen Entscheidungsfreiheit sind Faktoren, die grundlegend zur Entstehung von Glück und Zufriedenheit bei Jungen* beitragen. Kindheit und Jugend sind zudem sensible Entwicklungsphasen, in denen sich Heranwachsende in ihrer Identitätsfindung stark an Vorbildern und sozialen Erwartungen orientieren. Eigene Bedürfnisse und Wünsche werden dadurch schnell vernachlässigt bzw. von außen adaptiert, um gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.
Im Anschluss an den Hauptvortrag ging es in die Praxisforen, die jeweils von Expert*innen geleitet und moderiert wurden. Inhaltlich befassten sich die insgesamt fünf Foren mit Jungen* im digitalen Raum, Jungen* und junge Männer* mit Fluchtgeschichte, Männlichkeitsbildern und Geschlechtsidentitäten sowie Selbstwirksamkeit und Selbstwert von Jungs*.
Glück im Spannungsfeld von individuellen Entscheidungen und sozialen Strukturen
Werbung und Content auf Social Media suggeriert uns oft, dass wir dieses Mindset oder jenes Lifestyle-Produkt brauchen, um endlich glücklich zu sein. Meist ist das damit verbundene Glücksgefühl aber auch endlich, weil es sich um einfache, vorgefertigte Lösungen handelt, die nicht den eigentlichen Kern der Sehnsucht treffen. Die Schaffung eines dauerhaften positiven Lebensgefühls ist jedoch ein komplexer, kontinuierlicher Prozess.
Auf der einen Seite kann man verschiedene Parameter, die die eigene Person und Lebensumstände betreffen, selbst beeinflussen. Dazu gehört, das Leben nach individuellen Interessen, Fähigkeiten, Wünschen und dem persönlichen Wohlbefinden zu gestalten. Bin ich ein Land- oder ein Stadtmensch? Arbeite ich lieber körperlich oder im Büro? Wofür investiere ich meine Zeit? Welche Werte vertrete ich?
Andererseits sind die persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten und Entscheidungen an Faktoren gebunden, die außerhalb der Kontrolle des Individuums liegen. In dem sozialhistorisch gewachsenen Geflecht von formalen Strukturen und Rahmenbedingungen spielen ebenso Informalitäten eine Rolle. So können traditionelle Geschlechterbilder bestimmte Erwartungen an Männer* und Frauen* stellen, die sie in ihren Berufswahlmöglichkeiten einschränken, obwohl rein rechtlich kein Ausschluss besteht. Jungen* und Männer* ergreifen beispielsweise seltener Care-Berufe, die nach wie vor stark weiblich konnotiert sind.
Zusätzlich unterliegen die Aushandlung gesellschaftlicher Interessen und die Zuteilung von Ressourcen oft Machtdynamiken, die sowohl in zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in der institutionellen Arbeit und sozialen Strukturen verankert sind. Kinder und Jugendliche befinden sich nicht in Positionen, die es ihnen ermöglichen, diese Verhandlungsprozesse auf Augenhöhe zu beeinflussen. Das bedeutet, dass sie i.d.R. nur begrenzte Möglichkeiten haben, an der Gesellschaft mitzuwirken und ihre Bedürfnisse und Anliegen einzubringen. Umso wichtiger ist es, ihnen eine starke Vertretung zu bieten und sicherzustellen, dass sie Zugang zu den Ressourcen haben, die für ihre gesunde Entwicklung notwendig sind.
Same same, but different: Gerecht ist, wenn jede*r das Gleiche bekommt. Oder?
Dabei gilt zu berücksichtigen, dass Kinder mit ungleichen Voraussetzungen ins Leben starten. Manche haben wohlhabende Eltern, die ihnen Feriencamps und individuelle Nachhilfe ermöglichen. Andere leben in Familien, in denen das Einkommen gerade für Essen und Miete reicht. Wieder andere wachsen in Heimen auf und erfahren keinerlei familiäre Unterstützung oder sehen sich aufgrund ihrer Migrationsgeschichte mit diversen Herausforderungen im Aufnahmeland konfrontiert. Diese und zahlreiche weitere Bedingungen – auch als soziale Gesundheitsdeteerminanten bezeichnet – beeinflussen die Möglichkeiten und Ressourcen, die der Einzelne (nicht) hat, um seine Gesundheit zu schützen, zu verbessern und zu erhalten. (Hurrelmann & Richter, 2022)
Wenn wir über Glück und Glücklichsein sprechen, assoziieren wir psychisches Wohlbefinden damit. Demgegenüber stehen psychische Erkrankungen. Krankheitsbilder, die wie Depressionen die Psyche betreffen, treten in bestimmten sozialen Gruppen häufiger auf als in anderen, z.B. bei jungen Menschen aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen oder aus diskriminierten Minderheitengruppen. Sie sind vergleichsweise mehr gesundheitlichen Risiken* ausgesetzt und verfügen gleichzeitig über weniger Schutzressourcen. (Borho et al., 2022; Marshal et al., 2011; Reiss, 2013) Betrachten wir also die ungleichen Prävalenzen von psychischen Erkrankungen, dann erscheint eine stärkere Integration von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit in Prävention und Interventionen zur Förderung der mentalen Gesundheit von vulnerablen Kindern und Jugendlichen als sinnvoller Ansatz. Die zielgerichtete Verteilung zusätzlicher Mittel zur Stärkung der mentalen Resilienz und Gesundheit verschafft keine Vorteile gegenüber denjenigen, die sie nicht erhalten, sondern gleicht äußere Benachteiligungen und Belastungen, z.B. aufgrund des sozialen Hintergrunds, aus, sodass unabhängig davon gleiche Chancen auf eine gesunde mentale Entwicklung eher erreichbar sind.
Unterschied zwischen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit
Jungen* sind zudem keine homogene Gruppe, sondern jeder von ihnen begreift die Welt aus seiner Perspektive und unter den Bedingungen, in die er hineingeboren wird, spielt, lebt, heranwächst. Wie Jungen* Glück definieren, kann daher so unterschiedlich sein wie ihre subjektiven Realitäten.
Diese Vielfalt bedeutet, dass es allgemeine Maßstäbe braucht, um allen Jungen*, unabhängig von ihrer individuellen Person und Situation, Zugang zu den angebotenen Unterstützungsmaßnahmen zu ermöglichen. Das schließt ein, als Fachkraft zu reflektieren, ob die eigenen Regeln und Vorschriften wirklich für alle gelten oder ob sie einige Jungen* unbeabsichtigt benachteiligen bzw. fernhalten könnten. Dadurch wird eine gleichmäßige Verteilung von Ressourcen und damit Chancengleichheit gefördert.
Chancengerechtigkeit hingegen erfordert ein tieferes Verständnis für die individuellen Bedürfnisse und Barrieren der Jungen*. Hier geht es darum, die Vielfalt der Lebenswirklichkeiten anzuerkennen und Jungen* in ihren jeweiligen Lebenssituationen zu unterstützen, insbesondere wenn es um komplexe Themen wie Migration geht. Bei diesem Ansatz werden bestimmten Personen bestimmte Ressourcen zur Verfügung gestellt, um ihnen den Zugang zu gleichen Chancen zu ermöglichen.
Und in der Praxis?
Fachkräfte, die mit Jungen* arbeiten, haben verschiedene Möglichkeiten, die Ansätze der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit in ihre Praxis zu integrieren und Jungen* so auf ihrem persönlichen Weg zum Glücklichsein zu unterstützen. Eine zentrale Erkenntnis der Konferenz war es, Momente des Gelingens zu fördern, vor allem vor dem Hintergrund des Leistungsdrucks in der Gesellschaft und Teilsystemen wie dem Bildungssektor. Fortwährend Misserfolge im schulischen und beruflichen Werdegang können sich negativ auf das Selbstwertgefühl auswirken und einen Jungen* dazu veranlassen, nach (mehr oder weniger legalen) Alternativen zu suchen, in denen oder durch die er glaubt, mehr Anerkennung aus seinem Umfeld zu erfahren. Andersherum können Erfolgserlebnisse mental entlasten und zu mehr Resilienz sowie größerem Wohlbefinden führen. Die Überwindung von Herausforderungen und das Erreichen von Zielen stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit und das Selbstvertrauen von Jungen*, was dazu führt, dass sie Bemühungen eher als lohnend empfinden und motiviert bleiben, auch wenn sie auf Hindernisse stoßen. (Schoreit & Kuhn, 2022)
Im Sinne der Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit stellt sich also die Frage: Was ist ein Erfolgserlebnis für den jeweiligen Jungen*? Was braucht er, um diesen Erfolg zu erreichen? Was hindert ihn daran?
- In der Traumapädagogik kann ein Erfolgserlebnis darin bestehen, dass ein traumatisiertes Kind erstmals Vertrauen zu einer pädagogischen Fachkraft aufbaut und sich öffnet.
- Für ein Kind, das wiederholte traumatische Erfahrungen gemacht hat, kann das Gefühl, sich sicher und geschützt zu fühlen, als Erfolg gewertet werden.
- Die Reduktion des Konsums von Suchtmitteln kann als ein bedeutendes Erfolgserlebnis gewertet werden.
- Das Erkennen und die Akzeptanz der eigenen Suchtproblematik kann für viele Menschen bereits ein wichtiger Schritt sein, um Hilfe zu suchen und einen Weg zur Genesung einzuschlagen.
- Wenn ein Schüler, der zuvor Schwierigkeiten im Lesen hatte, plötzlich ein Buch selbstständig und mit Begeisterung liest, kann das ein Erfolgserlebnis im schulischen Kontext sein
- Die Verbesserung der sozialen Fähigkeiten und die Entwicklung von Freundschaften können ebenfalls als Erfolgserlebnisse im Schulalltag betrachtet werden.
Diana Wiesner (Soziologin & Gesundheitswissenschaftlerin) ist Referentin der LAG Jungenarbeit NRW e.V. für Öffentlichkeitsarbeit.
Referenzen
Hurrelmann K, Richter M (2022) „Determinanten der Gesundheit“. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-I008-2.0.
Borho A, Morawa E, Schug C, Erim Y (2022) „Perceived Post-Migration Discrimination: The Perspective of Adolescents with Migration Background“. European Child & Adolescent Psychiatry. https://doi.org/10.1007/s00787-022-02084-6.
Marshal M, Dietz L, Friedman M, Stall R, Smith H, McGinley J, Thoma B, Murray P, D’Augelli A, Brent D (2011) „Suicidality and Depression Disparities Between Sexual Minority and Heterosexual Youth: A Meta-Analytic Review“. Journal of Adolescent Health 49, Nr. 2: 115–23. https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2011.02.005.
Reiss F (2013) „Socioeconomic Inequalities and Mental Health Problems in Children and Adolescents: A Systematic Review“. Social Science & Medicine 90: 24–31. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2013.04.026.
Schoreit E, Kuhn H P (2022) „Kann die Schule die Selbstwertentwicklung Jugendlicher positiv beeinflussen?“ Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 54, Nr. 1: 38–48. https://doi.org/10.1026/0049-8637/a000251.