Fluchtspezifische Sexualpädagogik
Fluchtspezifische Sexualpädagogik
Diesen Text finden Sie auch in dieser Ausgabe von „Junge*Junge“: 01/2020.
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Eine Frage von Balance
Von Malte Jacobi
Sexualpädagogische Perspektiven sind einer der grundlegenden Zugänge und Themen von Jungenarbeit, sozusagen ein Klassiker. In der pädagogischen Arbeit mit jungen männlichen* Menschen geht es immer auch um Sex, Liebe, Geschlecht und um den Körper.
Für Jungen* ist Sexualität ein wesentlicher Teil ihrer Entwicklung, wie auch ihres Alltages, ihres Selbstbildes und ihrer gesellschaftlichen Rolle. Für sie bedeutet Sexualität immer die Auseinandersetzung mit ihrer Körperlichkeit und die Klärung und Bewältigung der an sie formulierten Zuschreibungen. Auch machen Jungs* spezifische Entwicklungserfahrungen und haben entsprechend spezifische Fragen an Erwachsene. Sexualpädagogik ist somit Spezial- und gleichzeitig Querschnittsthema. Da der Begriff der Sexualität schon "das Geschlechtliche" benennt, ist der Zusammenhang von Geschlechtlichkeit und Sexualität untrennbar gegeben. Somit werden die Aufgaben für Jugendliche, die mit der gegenwärtigen Aufweichung der Grenzen von Geschlechtlichkeit einhergehen, auch im Thema der Sexualität wirksam: Es geht um Orientierung und Entscheidungskompetenz. Geschlechterbezogene pädagogische Arbeit heißt, Jungen* hierbei zu begleiten. Sie heißt, den Jungs* Räume anzubieten, in denen es um sie geht. Womit bekommen wir es nun eigentlich zu tun, wenn wir uns männlicher* Sexualität fachlich annähern?
Reinhard Winters Veröffentlichung "Sexuelle Gesundheit männlicher Jugendlicher" aus dem Jahr 2017 hilft uns weiter – zunächst einmal gilt gesellschaftlich das Vorhandensein von funktionierendem Penis und Hoden als Grundlage für sexuelle Gesundheit von Männern*. Im reproduktiven Zweck bezieht sich männliche* Sexualität auf Leistung und den Maßstab der Erektions- und Zeugungsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit sexueller Gesundheit von Männern* geht somit oftmals mit einer Problematisierung der Leistungsfähigkeit einher. Auch fokussiert sich die Frage nach Gesundheit der Sexualität eines Mannes* zumeist auf funktionales Versagen, zum Beispiel Erektionsprobleme oder vorzeitiger Samenerguss. Akzeptanz männlicher* Sexualität hängt eng mit dieser Funktionalität zusammen. Ob Männer* sie erfüllen können, bestimmt oft ihr Männlichkeitsselbst- und -fremdbild. In der fachlichen Perspektive auf Männer*gesundheit liegt der Fokus somit mehr auf krankheits- als auf tatsächlich gesundheitsbezogenen Betrachtungen. Aspekte wie zum Beispiel sexuelle Zufriedenheit finden kaum statt. Auch die Nachwirkungen einer Sexualfeindlichkeit mit geschichtlich-religiösem Hintergrund stehen einer positiven Einstellung zur männlichen* Sexualität entgegen. Dies macht eine Perspektive auf Sexualität als Menschenrecht, Grundbedürfnis oder Lebensenergie schwierig: Sie wird vielmehr als potentielle Gewalt oder unter dem Gesichtspunkt von krank oder gestört untersucht. Damit gilt die Eindämmung "unnormaler Sexualität" immer wieder als zentrales Credo der sexuellen Bildungsarbeit mit Jungen* und Männern*.
Männliche Sexualität heißt Leistung – zu kurz kommt das Gesunde
Ein pauschaler Vorwurf, Jungen* oder Männer* würden Körper und Gesundheit vernachlässigen, unterschlägt, dass ihr Handeln von einer gesellschaftlichen Haltung dem männlichen Körper* gegenüber geprägt ist. Festzuhalten bleibt, was in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit sexueller Gesundheit männlicher* Jugendlicher zu kurz kommt: Das Gesunde. Es mangelt an differenzierter Auseinandersetzung, an Verständnis und an Messgrößen für die sexuelle Gesundheit von Jungen*. Um diese problematisierende Perspektive nicht anzunehmen und stetig zu reproduzieren, braucht Pädagogik eine Distanz vom medizinischen, defizitären Blick. Erst so wird eine positive, wertschätzende Arbeit mit Jungen* zum gesunden Umgang mit ihrer Sexualität möglich. Warum sollte all dies nun bei Jungen* aus anderen Ländern anders sein? Haben Jugendliche, die "woanders" geboren sind, wirklich andere Fragen und Probleme in ihrer sexuellen Entwicklung? Stehen sexuelle Biografien tatsächlich in einem so engen Verhältnis zur Staatenzugehörigkeit oder "Kultur" wie vielfach angenommen wird? Und vor allem: Müssen sexualpädagogische Angebote migrationsspezifisch ausgerichtet und fluchtsensibel reflektiert werden? Gesellschaftliche Diskurse legen dieses nahe. Ein Bild von "ausländischer Sexualität", besonders von nicht-deutsch-markierten Männern*, gibt es so lange wie es Nationalstaaten gibt. Diese Tradition schlägt sich natürlich auch in Pädagogik und Sozialer Arbeit nieder. Ob es sich dabei um rassistische, kulturalistische oder einfach fremdenfeindliche Konstruktionen handelt – die Dynamiken sind dieselben: Andersartigkeit wird behauptet oder sogar belegt, auf eine bestimmte Gruppe zugeschrieben und dann wiederum an Individuen dieser Gruppe markiert und durchexerziert. In Pädagogik wird der Bedarf nach einer solchen Kategorisierung dann häufig ganz pragmatisch begründet: "Ich kann besser mit ,Denen‘ arbeiten, wenn ich weiß, wie ‚Die‘ ticken." Warum aber gerade das Thema Sexualität im Besonderen herhalten muss, um solche Differenzlinien zu ziehen, ist erklärungswürdig. Die Veröffentlichungen "Sexualität und Gender im Einwanderungsland" (Uwe Sielert, Helga Marburger, Christiane Griese) und "Sexueller Exzeptionalismus" (Gabriele Dietze) helfen hier weiter. Begründungen liegen einerseits in einer historischen Herleitung: Postkoloniale Strukturen treffen auf migrationsgesellschaftliche Realitäten. Gleichzeitig hängen die gegenwärtige Nationalstaatlichkeit sowie politische Erwägungen mit sexualisierten Ausgrenzungs- und Abwertungsnarrativen zusammen. Möglicherweise ist es das Verhältnis von Gesellschaft, Staat, Bürger*innen und als Migrant*innen markierten Menschen, welches Sexualität im besonderen Maße als Projektionsfläche für sogenanntes "Othering" anbietet.
Jungenarbeit heißt Abwägen und Balancieren
Jungenarbeit als pädagogischer Ansatz sozialer Arbeit ist eine fachliche Perspektive auf diese wahrgenommene Differenz in der Gesellschaft. In diesem Sinn fungiert sie als Analyse- und Deutungsmuster und unterstützt das Verstehen von Jungen*. Es bedarf eines genauen Hinsehens. Dies erfordert eine kritische Reflexion und eben auch eine Distanz von eigenen Annahmen und Bewertungen über Jungen*. Jungenarbeit bewegt sich also – sofern sie die Vielfalt und Differenz der Jungen* anerkennt und dies zum Ausgangspunkt ihrer Pädagogik macht – immer in einer Balance von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, von Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Zu ihr gehört also ein achtsames Abwägen der Benennung von Bedarfen und themenbezogener pädagogischer Arbeit, fernab von Zuschreibungen. So müssen sich Fachkräfte auch in der Sexualpädagogik stets die Fragen stellen: Hilft es mir mein Konzept oder Angebot geschlechter- und/oder migrationspezifisch zu beleuchten? Nützt es, Aspekte von Fluchtbiografien einzubinden? Welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch und welche Blickwinkel werden damit verschlossen? Vor allem aber stellt sich die Frage: Bietet und schafft das, was ich tue, Anerkennung für Jungen*? Erfahren die Jungen* wertschätzende Resonanz? Eröffnet es Klärung, Konfrontation und Auseinandersetzung? Ermöglicht es den Jungen* selbst, aber auch dem sozialen Umfeld neue Bilder und Vorstellungen über Jungen*? Insofern also: Hilft das, was ich tue, den Jungs*?
Malte Jacobi ist seit 2016 für die LAG Jungenarbeit in NRW als Referent im Projekt "Irgendwie Hier! Flucht – Migration – Männlichkeiten" tätig. Das Projekt richtet sich mit Beratungs- und Qualifizierungsangeboten sowie exemplarischen Praxisprojekten an Träger, Institutionen und Fachkräfte in den Handlungsfeldern nach SGB VIII, §§ 11-14. Im Projekt geht es um die landesweite Arbeit an der Verbreitung und Vertiefung geschlechterreflektierter Perspektiven in den Kontexten von Fluchterfahrung, Migrationsgesellschaft, Transkulturalität und Rassismuskritik.