Vorsorge? Check!
Vorsorge? Check!
Von Diana Wiesner
Gesundheitliche Selbstbestimmung und Gesundheitskompetenz von Jungen* im Kontext männlicher Identität
Studien zeichnen ein deutliches Bild von den Unterschiede zwischen Männern und Frauen, wenn es um Lebenserwartung, Krankheitsspektrum, Gesundheitsverhalten und Gesundheitsbewusstsein geht. Im Schnitt haben Männer in westlichen Industriegesellschaften eine signifikant kürzere Lebenserwartung als Frauen. In Deutschland beträgt der aktuelle Unterschied etwa fünf Jahre, wobei Männer bis zum Alter von 65 Jahren rund dreimal häufiger an tödlichen Verkehrsunfällen, Lungenkrebs und Suizid sterben als Frauen.
Die Vernachlässigung von gesundheitsbezogener Prävention kann langfristige Auswirkungen haben. Deswegen ist es wichtig, dass auch Jungen* frühzeitig die Bedeutung von Vorsorgeuntersuchungen und gesunden Lebensgewohnheiten erlernen. Das Ausbleiben regelmäßiger Gesundheitschecks und präventiver Verhaltensweisen führt zu einer erhöhten Anfälligkeit für gesundheitliche Probleme im Erwachsenenalter. Der Erwerb von Gesundheitskompetenz sollte daher nicht banalisiert werden.
Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen verstehen, anwenden und kritisch hinterfragen zu können sowie sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden. Eine geringe Gesundheitskompetenz wird mit schlechterem Gesundheitswissen und Krankheitsmanagement, einer Zunahme chronischer Krankheiten, einer unzureichenden Inanspruchnahme präventiver Gesundheitsdienste und vermehrten Krankenhausaufenthalten in Verbindung gebracht.
Gesundheitsprobleme oder Erkrankungen, die vermieden oder reduziert werden könnten, sind vermeidbare Krankheitslasten, denen durch gesundheitskompetentes, präventives Verhalten entgegen gewirkt werden kann. Potenziale in der Jungengesundheit liegen hier:
Selbstbild - Männlichkeit
Teil von Gesundheitskompetenz ist auch ein gesundes Selbstwertgefühl, denn das ist eng mit der Fähigkeit zur Selbstfürsorge verbunden. Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl neigen eher dazu, sich selbst zu akzeptieren, einschließlich ihrer Stärken und Schwächen. Diese Selbstakzeptanz bildet die Grundlage für das eigene Wohlbefinden
Die Ursachen, warum in der männlichen Bevölkerung vermeidbare Krankheitslasten entstehen, liegen nicht zuletzt in Überzeugungen an eine feste binärgeschlechtliche Ordnung mit der Annahme männlicher Überlegenheit. Danach konstruierte Rollenbilder fördern, dass Eigenschaften und Verhaltensweisen als "unmännlich" eingestuft werden, die nicht in diese Ordnung passen. Auch die geringere Fürsorge um das eigene Selbst steht nicht zuletzt im Zusammenhang mit vermeintlichen Männlichkeitsidealen, die an Leistung, Härte, Macht, Distanz und Konkurrenz gekoppelt sind.
Jungen* können auf diese Weise internalisieren, dass es ein "besseres" und ein "schlechteres" Männlichsein gibt und dazu neigen, ein Selbstbild und einen Selbstwert zu entwickeln, die auf den vermeintlich männlichen Merkmalen basieren. Viele Jungen* und Männer* orientieren sich an präsenten sozialen Erwartungen gegenüber ihrem Geschlecht, sodass es für sie schwierig sein kann, von der Norm abzuweichen, ohne das Gefühl zu haben, an Männlichkeit zu verlieren. Die Einstufung basiert oft auf verhaltens- und körperbezogenen Kriterien. In vielen Kulturen wird Männlichkeit mit Attributen wie Unabhängigkeit, Durchsetzungsvermögen, Stärke und Kontrolle verbunden.
Aspekte, die nicht männlich konnotiert sind, werden abgewertet oder sie bekommen weniger Relevanz beigemessen, weil sie nicht als Teil der eigenen geschlechtlichen Identität begriffen werden. Dazu gehören beispielsweise fürsorgliche Tätigkeiten oder das Zeigen von Verletzlichkeit. Auch bei Gesundheitsthemen, die weiblich konnotiert oder mit Stigma behaftet sind, wie Depressionen, kann es für Jungen* schwierig sein, sich mit ihrer Gesundheit auseinanderzusetzen und Hilfe zu suchen. Diese Art von Problemen wird oft als abweichend oder sogar als Versagen betrachtet, was wiederum Scham, Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung hervorrufen kann. Jungen* können dadurch den Druck spüren, den Erwartungen an traditionelle Männlichkeit gerecht zu werden. Dabei können sie gesundheitliche Aspekte aus dem Blick verlieren oder davon ausgehen, sie seien weniger anfällig gegenüber Krankheiten.
Was dazu gehört, um Gesundheitskompetenz bei Jungen* zu stärken
Pädagogische Fachkräfte können daran arbeiten, ein positives Selbstbild bei Jungen* zu fördern, indem sie auf verschiedene Aspekte der persönlichen Entwicklung eingehen, die mit Männlichkeit zu tun haben. Hierzu gehört eine bewusste Auseinandersetzung mit traditionellen Männlichkeitsnormen und Stereotypen. Eine offene Diskussion, Bildung und Sensibilisierung sind wichtig, um Jungen* die Bedeutung von Selbstfürsorge und Achtsamkeit näher zu bringen und ihre Gesundheitskompetenz zu stärken.
Individualität und Kultur berücksichtigen
Jungen* sind keine homogene Gruppe. Weitere Faktoren können geschlechtsbezogene Gesundheitsunterschiede verstärken oder ausgleichen. Deswegen müssen auch Einflüsse wie der sozioökonomischen Status, das Alter und der kulturelle Hintergrund berücksichtigt werden. Möchte man also mit einem Jungen* über Gesundheitsthemen sprechen, müssen auch individuelle Überzeugungen und Praktiken, auf die möglicherweise auch im familiären oder sozialen Umfeld Wert gelegt wird, einbezogen werden. Jungen* lernen durch kulturelle Einflüsse, wie ihre Gemeinschaft Gesundheit und Selbstfürsorge wahrnimmt. Das prägt sowohl ihr Gesundheitsverhalten als auch mögliche Zugangspunkte:
Aufmerksam sein
Auch wenn sie es nicht immer bewusst wahrnehmen oder artikulieren können, nehmen Jungen* wahr, wenn z.B. ihre seelische oder emotionale Gesundheit leidet. Ansprechpartner*innen, die Anzeichen erkennen oder Dialoge initiieren, sind dann wichtig, wie Alex Sott vom JungenBüro Bremen mit uns im Gespräch erörtert hat. Die Erfahrungen des Teams, das sich aus Pädagogen*, Soziologen* und systemischen Beratern*zusammensetzt, zeigen, dass Jungen* Redebedarf haben, wenn es um Gewalterfahrungen geht, die sie selbst oder andere Jungen* erlebt haben. Damit Jungen* sich öffnen können, braucht es einen Rahmen, der es ihnen erleichtert.
Hilfreich ist es beispielsweise, eine Projektionsfläche zu bieten. Sprich, Jungen* nicht direkt zu adressieren, sondern den Fokus von der Person zu nehmen und Gewalterlebnisse auf einer unpersönlichen Ebene zu thematisieren. Das nimmt Jungen* die Sorge, als schwach und unmännlich wahrgenommen zu werden, und verhindert, dass sie aus Scham sozial erwünschte Antworten geben, die männlichen Stereotypen entsprechen.
Das ist ein Ansatz, der in ähnlicher Form hilfreich sein kann, um mit Jungen* über ihre Gesundheit und verschiedenen Gesundheitsthemen ins Gespräch zu kommen. Die Fachkraft könnte beispielsweise anonyme Fallstudien, Geschichten oder Statistiken über Gesundheitsprobleme präsentieren, ohne sie direkt auf einzelne Personen zu beziehen. Dadurch wird der Fokus von individuellen Personen genommen und auf allgemeine, abstrakte Informationen verschoben. Dies bietet den Jungen Raum, sich auf die Themen zu konzentrieren, ohne persönliche Bedenken hinsichtlich gesellschaftlicher Erwartungen oder Stereotypen haben zu müssen.
In diesem Kontext könnten Fragen wie "Was denkt ihr über die Herausforderungen, die Menschen in dieser Altersgruppe bei der Bewältigung von Stress erleben?" oder "Wie würdet ihr präventive Maßnahmen für bestimmte Gesundheitsprobleme angehen?" gestellt werden. Die Jungen hätten somit die Möglichkeit, frei und offen über Gesundheitsthemen zu sprechen, ohne sich direkt mit individuellen Erfahrungen auseinandersetzen zu müssen. Dies fördert eine offene und weniger belastende Kommunikation, weil Gedanken und Meinungen geteilt werden können, ohne sich durch persönliche Offenbarungen verletzlich zu fühlen.
Gesundheitsverhalten zwischen Genderneutralität und Gendersensibilität
Genderneutralität zielt darauf ab, Gesundheitsinformationen und -richtlinien so zu gestalten, dass sie für Menschen aller Geschlechter gleichermaßen relevant sind. Das bedeutet, geschlechtsspezifische Stereotypen zu vermeiden und eine inklusive Sprache zu verwenden, die die Vielfalt der individuellen Lebensrealitäten widerspiegelt.
Stereotype Anforderungen an Männlichkeit können dekonstruiert werden, indem z.B. geschlechtsspezifische Konnotationen von Bewältigungspraktiken aufgelöst werden. Dies beinhaltet die Auseinandersetzung mit Einstellungen, die Selbstfürsorge als unwichtig oder Schwäche interpretieren. Emotionale Offenheit und die Pflege der eigenen Gesundheit können hingegen als positive und starke Merkmale betont werden. Als Gegengewicht zu Stereotypen können Männlichkeitsbilder aufgezeigt werden, die z.B. alternative Bewältigungsstrategien anwenden und zeigen, wie vielfältig Männlichkeit sein kann.
Parallel ist es in der pädagogischen Praxis wichtig anzuerkennen, dass es Wirklichkeiten inkludiert, in denen Menschen in binären Strukturen denken und handeln. Gesundheit muss daher auch gendersensibel behandelt werden. Das heißt, positive Aspekte von Männlichkeit zu betonen und Raum für eine breite Vielfalt von männlichen Identitäten und Ausdrucksformen zu schaffen, da vorhandene geschlechtsspezifische Erfahrungen, soziale Normen und kulturelle Erwartungen das Gesundheitsverhalten beeinflussen können.
Diese Balance zwischen Genderneutralität und Gendersensibilität könnte dazu beitragen, dass Jungen* ein gesundes Selbstbild entwickeln, das mit der Fähigkeit zur Selbstfürsorge in Einklang steht.
Chancengerechtigkeit fördern
Unabhängig von ihrer sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Situation, braucht es faire Chancen, damit alle Jungen* gleichermaßen Zugang zu Gesundheitsinformationen und Ressourcen erhalten. Das schließt sowohl den Zugang zu relevanten Gesundheitsinformationen als auch zu barrierefreien Unterstützungssystemen im Sozialen und Digitalen ein. Mehr dazu in diesem Beitrag.
Recht und Verantwortung
Wenn wir über die Bedeutung von Gesundheitskompetenz für Jungen* nachdenken, wird deutlich, dass es sich hierbei um ein grundlegendes Recht handelt. Es geht nicht nur darum, Jungen* darüber aufzuklären, wie wichtig es ist, sich um ihre Gesundheit zu kümmern, sondern auch darum zu vermitteln, dass es ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität ist.
Durch eine gezielte Förderung von Gesundheitskompetenz und präventiven Maßnahmen besteht die Möglichkeit, vermeidbare Krankheitslasten zu reduzieren, die mit unzureichender Vorsorge, mangelnder Inanspruchnahme von Hilfe, riskantem Verhalten und Vernachlässigung der mentalen bzw. emotionalen Gesundheit in Verbindung stehen. Indem wir Jungen die notwendigen Werkzeuge und Kenntnisse an die Hand geben, fördern wir nicht nur ihre individuelle Gesundheit, sondern tragen auch dazu bei, gesündere Gemeinschaften und eine chancengleiche Zukunft zu schaffen. Wir können es uns zur Aufgabe machen, dass Jungen befähigt werden, ihre Gesundheit eigenverantwortlich zu gestalten und Unterstützung zu suchen, wenn sie sie benötigen.
Diana Wiesner (Soziologin & Gesundheitswissenschaftlerin) ist Referentin der LAG Jungenarbeit NRW e.V. für Öffentlichkeitsarbeit.
Referenzen